Hiob

Hiob – Joseph Roth (1930)

Einleitung

Der Roman „Hiob“ von Joseph Roth beschreibt das Leben der jüdischen Familie Singer. Ihr Leben wird durch eine Reihe von Schicksalsschlägen bestimmt, die die Familie auseinanderbrechen lassen und ihre traditionellen Werte ins Wanken bringen.

Die Handlung
Die Handlung des Romans lässt sich grundsätzlich in zwei Teile einteilen.
In den Kapiteln eins bis neun befindet sich Familie Singer in Russland. Sie leben als jüdische Familie im ländlichen Zuchnow in einem jüdischen Schtetl. Die Lebensweise der Familie ist geprägt durch familiäre Probleme, die Frage der Auswanderung nach Amerika und schließlich der Ankunft in New York. In der Familie gibt es Auflösungserscheinungen, die das Elternpaar (Mendel und Deborah) zu verhindern versuchen, dies gelingt ihnen jedoch kaum. Die Gesellschaft des jüdischen Schtetl ist durch die Agrarwirtschaft bestimmt. Die Juden sind abgeschottet von der restlichen Gemeinschaft und bleiben lieber unter sich. Sie haben dafür untereinander sehr enge und persönliche Beziehungen. Das Leben ist eher bäuerlich, schlicht und auf das lebensnotwendige reduziert. Auch Familie Singer lebt ein ärmliches Leben, da Mendel nur wenig verdient. Der Lebensstil umfasst die fast mittelalterliche Welt des jüdischen Schtetls.
Im zweiten Teil (Kapitel zehn bis 16) lebt die Familie in einem jüdischen Viertel der Großstadt New York. Ihr Leben ist bestimmt durch schwerwiegende Schicksalsschläge, den Abfall Mendels von Gott und die Rückkehr des verlorenen Sohnes, welche eine Versöhnung von Mendel mit Gott bewirkt. Die Familie löst sich zunächst weiterhin auf und wird von Todesfällen erschüttert. Das Leben in der amerikanischen Gesellschaft wiederum bringt Anonymität, Liberalität und Assimilationsdruck mit sich. Jedoch lebt Familie Singer auch weiterhin relativ abgeschlossen in einem jüdischen Viertel und hält sich durch finanzielle Unterstützung des Sohnes über Wasser. Der Lebensstil umfasst die moderne Großstadtgesellschaft der Jahrhundertwende.

 
Die Figuren

Mendel (der Gerechte)
In Russland lebt Mendel Singer das Leben eines ganz alltäglichen Juden, der ein gleichmäßiges Leben hat. Er gehört der untersten gesellschaftlichen Schicht an, da er Lehrer ist und die Juden der Meinung sind, dass man Wissen nicht für Geld erlangen sollte. Durch seine Gebete und Schriftlesungen hat Mendel die Nähe zu Gott gefunden, weshalb sein Lebensrhythmus durch rituelle Handlungen und Gebetszeiten bestimmt ist. Auch äußerlich sieht er nach einem traditionellen Juden aus. Er hat einen Bart und trägt eine Mütze, einen Kaftan und Lederstiefel. Mendel nimmt seine, von der Tradition geprägte, Vaterrolle an.
Er ist immer beherrscht von dem Gefühl heiliger Scheu, weil er sich von Gott und seiner Strenge und Größe abhängig sieht. Sein Gehorsam und seine Treue zur Thora verbieten ihm Handlungen gegen den Glauben. Durch seine Frömmigkeit erträgt er sein Leid klaglos und akzeptiert arm und reich. Mendel erklärt sich die ungerechte Ordnung der Welt durch die Unbegreiflichkeit von Gottes Handeln. In seinem Glauben und seiner engen Beziehung zu Gott findet er Geborgenheit, während er zu Gesellschaft eher Abstand hält. Er fühlt sich hilflos und verhält sich unterwürfig, da er sie als „feindliche Umwelt“ ansieht.
Mendel entscheidet sich für die Auswanderung ach Amerika, um seine Tochter Mirjam zu beschützen. Dort angekommen setzt er sich jedoch nicht mit der fremden Kultur auseinander und hat dafür aber enorm schwierige Umstände für sein traditionsgebundenes Leben- Durch die fehlende Grundlage seiner familiären Beziehungen stürzt er in eine Identitätskrise und findet nur Halt in seinen religiösen Überzeugungen. Das Leben in Amerika ist für Mendel geprägt durch Einsamkeit und Selbstentfremdung.
Während einer kurzen Phase des Glücks und der Zufriedenheit versucht Mendel sich anzupassen, jedoch folgen kurze Zeit später die Schicksalsschläge, die diese Hoffnung zunichte machen. Mendel wirft sich vor zu passiv gewesen zu sein und sieht den Grund dafür in seiner Gottesergebenheit. Durch den Schmerz und Verlust seiner Familie löscht sich seine bisherige Identität aus und er beginnt sich gegen Gott aufzulehnen. Durch diesen Hass und Schmerz gewinnt Mendel schließlich Klarheit und Freiheit, es gelingt ihm jedoch nicht vollständig mit seinen Traditionen zu brechen.
Am Ende des Romans kann er sich, nach der Rückkehr von Menuchim, mit Gott versöhnen.

Deborah (die Unzufriedene)
Deborah, die Mutter der Familie, ist einerseits eine willensstarke, tüchtige, selbstbewusste und lebenspraktische Frau. Auf der anderen Seite ist sie aber auch unzufrieden, furienhaft und demütigt oder verachtet Mendel. Sie kann seine Gottesergebenheit nicht verstehen und hat Neidgefühle gegenüber den Wohlhabenden. Sie klagt permanent über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Familie und die fehlende Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Deborah ist ausschließlich auf die Vorteile für ihre Familie aus, weshalb sie sich auch mit „Nicht-Juden“ auseinandersetzt. Sie vereint Aktivismus und Sparwillen, die aus der Armut der Familie resultieren. Sie erlebt sich als natürlich und mit einer robusten Körperlichkeit. Durch das Nachlassen ihrer sexuellen Ausstrahlung fällt sie in eine Existenzkrise, was wiederum ihre Vitalität lähmt. Von diesem Zeitpunkt an lebt sie nur noch neben Mendel her. Nach der Umsiedlung nach Amerika ist sie bereit zur Assimilation. Sie ist der neuen Lebenswelt sehr zugetan.
Deborahs Verhältnis zu ihren Kindern und deren Glück ist für sie ein Selbstverständnis, für das sie sich einsetzt. Nach der Geburt Menuchims und seiner Krankheit verändert sich Deborahs Beziehung zum Rest der Familie. Sie vernachlässigt die übrigen Kinder, da ihr Menuchims Schicksal ein schlechtes Gewissen verursacht. Außerdem beneidet sie ihre Tochter Mirjam um ihre Schönheit und ihren Willen sich den Konventionen des Judentums zu widersetzen. Sie denkt an ihre eigenen deprimierende Situation und die ungenutzten Lebensmöglichkeiten aus ihrer Jugend.
Deborahs Verständnis von Gott ist auf ihre praktische Lebensweise ausgerichtet. Sie glaubt an die Prophezeiung des Wunderrabbis. Ihr Tod verkörpert schließlich ihr Scheitern.

Jonas (der Bär)
Jonas ist der älteste Sohn der Familie. Er löst sich bewusst von seinem Elternhaus und damit von den jüdischen Traditionen. Er passt sich an seine russische Umwelt an und verleugnet das Judentum. Er will zu den Soldaten gehen und beginnt Alkohol zu trinken. Jonas hat keine hohen Ansprüche an das Leben, durch sein Leben als Soldat sieht er dieses als erfüllt an. Später schreibt er seiner Familie einen Brief, in dem er von seiner Zufriedenheit berichtet. Er hat sich der russischen Mentalität angepasst und verlängert seinen Aufenthalt beim Militär. So versündigt er endgültig seine jüdische Herkunft.

Schemarjah/Sam (der Fuchs)
Schemarjah fühlt sich mit den jüdischen Traditionen verbunden, setzt sich aber das Ziel reich und erfolgreich zu werden. Um dem Kriegsdienst zu entgehen flüchtet er nach Amerika. Dort löst er sich von seinen jüdischen Traditionen und gibt sogar seine jüdische Identität auf. Er nennt sich von da an Sam und beachtet die jüdischen Vorschriften nicht mehr, wenn sie seiner Karriere im Weg stehen. Er trägt westliche Kleidung und erzieht auch sein Kind nicht nach jüdischen Traditionen. Er wächst vollständig in die liberale amerikanische Gesellschaft hinein, nur in seinem Familiensinn zeigen sich noch Reste seiner jüdischen Lebensweise. Schemarjah/Sam verkörpert einen emigrationswilligen und assimilationsbereiten Juden, der zu einem amerikanischen Patrioten wird, was ihn letzten Endes das Leben kostet.

Mirjam (die Gazelle)
Mirjams Leben ist darauf ausgelegt, dass sie ihre Triebhaftigkeit ausleben kann und sexuelle Befriedigung erfährt. Sie durchbricht mit dieser Lebenseinstellung die jüdischen Normen. Sie zeigt sich außerdem rücksichtslos und verabscheut Menuchim und Mendel.
Mirjam definiert sich ausschließlich über Männer und kann in Russland keine Freiheit finden, da sie von ihrem sexuellen Drang getrieben wird. Durch ihre Liebesbeziehungen mit Kosaken bedroht sie die jüdische Identität und Ehre der Familie.
In Amerika ist Mirjam möglich ihre Sinnlichkeit stärker auszuleben, da sie keiner sozialen Kontrolle mehr unterliegt. Über ihren eigenen Glücksanspruch und ihre Lebensgier vergisst sie ihre Familie. Jedoch verbessert sich das Verhältnis zur Familie in Amerika, da sie ungehindert tun kann, was sie möchte. Als Mirjam schließlich zusammenbricht, verkörpert dies den Zwiespalt zwischen ihrer Triebhaftigkeit und ihrem Normbewusstsein.

Menuchim (der Tröster)
Zunächste erscheint der kranke Menuchim, der an Epilepsie leidet, wie ein Beweis der elterlichen Verfehlung und damit als Strafe Gottes. Er bildet den Mittelpunkt der Familie und bekommt sehr viel Liebe von seinen Eltern. Diese vernachlässigen deswegen die anderen Kinder, welche schließlich versuchen den kleinen Bruder zu ertränken.
Menuchim ist eine mystische Figur, die Retter- und Erlöserfunktion hat. Er entwickelt eine Erlebensfähigkeit, welche Zeichen der Weisheit und Allwissenheit Gottes ist. Dadurch, dass er durch musikalische Erlebnisse geprägt wird, wird er später ein bedeutender Komponist.
Menuchim (Alexander Kossak) ist der Retter des verzweifelten und einsamen Mendels und versöhnt diesen mit Gott und der Gesellschaft. Somit wird Mendels Glaube an die göttliche Ordnung und Gerechtigkeit wieder hergestellt.
Menuchim verkörpert die Lösung des Assimilationsproblems. Er passt sich an und erhält sich dabei aber auch das jüdische Erbe.

Hiob und Mendel Singer
In seinem Roman orientiert sich Roth am biblischen Hiob. Beide Figuren machen vergleichbare existentielle Leiderfahrungen und beginnen an Gott zu zweifeln.
Der biblische Hiob ist dabei zunächst der „Dulder“, der sich klaglos Gottes Willen ergibt, dann aber zum Rebellen gegen Gott wird.
Mendel Singer nimmt seine Schicksalsschläge am Ende nicht mehr einfach hin, sondern sagt sich von Gott los. Seine Auflehnung wirkt naiv und komisch und ist im Wesentlichen verbal. Er bringt es nicht über sich seine Gebetsutensilien zu verbrennen. Außerdem wir die Auflehnung von seinen Freunden unterstützt.
Hiob und Mendel Singer sind nicht zu vergleichen. Hiob erleidet Gottes Abwesenheit, während Mendel Mühe hat, Gottes Anwesenheit zu ignorieren. Er reagiert zwiespältig mit Hass und gleichzeitig mit Furcht vor Gott.
Mendel Singers Schicksal kann als Beispiel des Mittelmäßigen und Alltäglichen aufgefasst werden. Sein Schicksal ist beispielhaft für das von vielen Anderen.

Mendels Neugeburt – Mit Kinderschritten in ein neues Leben 
 

Fazit
Das Überleben in einer neuen Gesellschaft gelingt nur Menuchim, weil er seine Identität nicht aufgibt. Er versucht nicht sich der Gesellschaft anzupassen, sondern nur seinem neuen Leben. Dabei respektiert er weiterhin seine Wurzeln und will sie weder auslöschen, noch verdrängen. Außerdem eröffnet sich ihm ein emotionaler Zugang zur Welt, welchen seine Familie nicht kannte. Er akzeptiert Mendel so wie er ist und versucht nicht zwanghaft etwas zu ändern.
Menuchim ist in der Lage zufrieden mit dem zu sein, was er hat. Er ist er selbst und hat eine stabile Grundlagen bestehend aus Glaube, Tradition und Interesse an der Welt.

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